An den Aktienmärkten herrscht Hochspannung: Die großen Technologieunternehmen – Apple, Microsoft, Nvidia und Co. – haben ihre Bewertungen auf neue Rekordhöhen getrieben. Für Anleger stellt sich die alte Frage in neuem Gewand: Sind diese Kurse Ausdruck realer Wertschöpfung oder Anzeichen einer Blase? Auffällig ist jedenfalls, dass klassische Bewertungskennzahlen wie das Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) kaum noch zur Realität der digitalen Wirtschaft passen. Die Werkzeuge, mit denen einst Industrieunternehmen beurteilt wurden, scheinen im Zeitalter der immateriellen Vermögenswerte ihre Aussagekraft zu verlieren.

Wenn Bilanzwerte an ihre Grenzen stoßen

Traditionell galt das KBV als ein Anker der Bewertung. Es zeigt, wie der Markt das in der Bilanz ausgewiesene Eigenkapital eines Unternehmens einschätzt. Ein KBV von 1 bedeutet: Der Börsenwert entspricht dem bilanziellen Vermögen nach Abzug der Schulden. Liegt der Faktor deutlich darüber, zahlt der Markt eine Prämie auf den inneren Wert – etwa für Wachstumserwartungen oder Markenstärke.

Doch bei den führenden Technologieunternehmen sind diese Relationen inzwischen jenseits aller historischen Maßstäbe. Apple beispielsweise weist aktuell ein KBV von rund 58 auf – der höchste Wert seit dem Börsengang 1980. Damals zahlten Investoren etwa das 14-Fache des bilanziellen Eigenkapitals. Ähnliche Extreme finden sich bei anderen Tech-Giganten: Nvidia, die Nummer eins an der Börse, hat bei einem Börsenwert von mehr als 4,5 Billionen Dollar lediglich rund 18 Milliarden Dollar an Sach- und immateriellen Vermögenswerten in der Bilanz stehen – buchhalterisch also kaum Substanz.

Gemessen am KBV wirken die US-Technologiewerte damit teurer als je zuvor. Der Index der „Magnificent Seven“ hat den alten Höchststand aus den Jahren der Dotcom-Blase längst übertroffen. Selbst der breite S&P 500 notiert gemessen an dieser Kennzahl auf Allzeithoch. Doch was sagt das wirklich aus?

Immaterielle Vermögenswerte: der unsichtbare Schatz

Die Antwort liegt in der Bilanzlogik. Die gängigen Rechnungslegungsstandards – ob IFRS oder US-GAAP – sind für die industrielle Ära konzipiert. Sie bevorzugen physische Vermögenswerte wie Maschinen, Gebäude oder Vorräte. Für die heutige, wissensbasierte Wirtschaft gilt das kaum noch. Software, Marken, Patente, Forschungsergebnisse oder der Erfahrungsschatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dürfen nur dann aktiviert werden, wenn sie im Rahmen eines Unternehmenskaufs erworben wurden.

Eigenentwicklungen hingegen gelten buchhalterisch als Aufwand – selbst wenn sie die Basis des Erfolgs bilden. So erklärt sich, warum Apple trotz jahrzehntelanger Innovationen kein immaterielles Vermögen in der Bilanz ausweist, während ein akquisitionsgetriebener Konzern wie etwa ein großer Pharma- oder Konsumgüterhersteller hohe Posten für Goodwill und Markenrechte ausweisen darf.

Diese systematische Schieflage führt dazu, dass der wahre Wert digitaler Geschäftsmodelle in der Bilanz unsichtbar bleibt. Das KBV verliert damit seine Funktion als Maß für Substanz oder Überbewertung. Ein hoher Faktor bedeutet heute nicht zwangsläufig Überhitzung, sondern spiegelt häufig einfach wider, dass große Teile des Unternehmenswerts außerhalb der Bilanz liegen.

Der Wandel der Marktstruktur

Auch die Zusammensetzung der großen Indizes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschoben. Im S&P 500 machen technologie- und innovationsgetriebene Unternehmen inzwischen rund die Hälfte des Gesamtgewichts aus – vor 20 Jahren waren es noch etwa 30 Prozent. Der Anteil klassischer Industriekonzerne ist entsprechend zurückgegangen.

Mit dieser Verschiebung veränderte sich auch die Grundlage der Bewertung: Während in der „Old Economy“ die Bilanzsubstanz – also Maschinen, Immobilien, Rohstoffe – als Basis diente, zählen in der „New Economy“ Ideen, Software, Netzwerkeffekte und Datenbestände. Die Regeln aber, nach denen bilanziert und bewertet wird, stammen aus einer Zeit, in der geistiges Eigentum eine Nebenrolle spielte.

Neue Geschäftsmodelle, alte Maßstäbe

Das bringt Investoren in ein Dilemma. Einerseits möchten sie Unternehmen auf Basis verlässlicher Kennzahlen vergleichen. Andererseits sind die alten Maßstäbe für die neue Generation von Geschäftsmodellen kaum noch geeignet. Ein KBV von 50 war früher ein Alarmsignal – heute ist es bei erfolgreichen Tech-Konzernen fast normal.

Auch andere klassische Kennziffern wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) stoßen an Grenzen, wenn Unternehmen massive Vorleistungen in Forschung, Daten oder Plattforminfrastruktur tätigen, deren Ertrag erst Jahre später sichtbar wird. Die Wachstumslogik der digitalen Ökonomie passt nicht mehr zu den linearen Modellen der Industriezeit.

Gleichzeitig bleibt der Wunsch nach Bewertungsdisziplin bestehen. Wer nur auf Wachstumsnarrative setzt und die ökonomische Substanz ignoriert, läuft Gefahr, sich in einer neuen Form der Blasenbildung zu verlieren – diesmal nicht getrieben von überzogenen Gewinnfantasien, sondern von fehlenden Bewertungsmaßstäben.

Suche nach neuen Bewertungsansätzen

Analysten und Investoren suchen daher nach Alternativen. Eine Möglichkeit ist der sogenannte „Substanzblickwinkel 2.0“: Dabei werden außerbilanzielle Vermögenswerte – etwa Markenwert, Kundenstämme, Software, geistiges Eigentum oder Daten – systematisch quantifiziert und in die Bewertung einbezogen. Private-Equity-Investoren nutzen ähnliche Ansätze in ihren „Sum-of-the-Parts“-Modellen, um den wirtschaftlichen Wert jenseits der Bilanz zu erfassen.

Zudem rückt der Cashflow wieder stärker in den Mittelpunkt. Denn letztlich zeigt er, wie erfolgreich ein Unternehmen seine Ideen in reale Gewinne umwandelt. In dieser Hinsicht stehen Tech-Unternehmen trotz hoher Bewertungen meist solide da: Sie erzielen stabile Margen, hohe Kapitalrenditen und enorme freie Cashflows.

Für traditionelle Branchen wie Energie, Industrie oder Finanzen bleibt das KBV hingegen ein nützlicher Indikator. Dort spiegelt die Bilanz nach wie vor weitgehend die ökonomische Realität wider – eine Fabrik oder ein Ölfeld lässt sich nun einmal anders bewerten als eine Softwareplattform.

Ein Paradigmenwechsel der Bewertung

Der Kapitalmarkt befindet sich in einem Übergang. Die Bewertungsmodelle, die einst für Stahl, Öl und Maschinen entwickelt wurden, stoßen im Zeitalter von Software, KI und Datenökonomie an ihre Grenzen. Das bedeutet nicht, dass alle Tech-Aktien überbewertet sind – wohl aber, dass die Messinstrumente unvollständig geworden sind.

Wer heute in die „New Economy“ investiert, muss lernen, außerhalb der Bilanz zu denken: Welche Innovationskraft steckt in einem Unternehmen? Wie stark ist die Marke, wie loyal die Nutzerbasis, wie verteidigungsfähig das Geschäftsmodell? Erst wenn diese Fragen Teil der Bewertung werden, lässt sich Substanz im 21. Jahrhundert wirklich erfassen.

Die hohen Kurs-Buchwert-Verhältnisse sind daher weniger Ausdruck einer neuen Blase als vielmehr Symptom einer alten Rechnungslogik. Vielleicht ist es Zeit, nicht nur die Unternehmen, sondern auch unsere Bewertungsmaßstäbe zu erneuern.

Vorheriger ArtikelWirkung durch Geld – Was kann ich mit meiner Investition tatsächlich bewirken?
Nächster ArtikelDer Versicherungsübersetzer: „Obliegenheiten“ – was für ein fieses Wort
Frank Seidel
Frank Seidel ist Bankkaufmann und Finanzökonom (EBS) mit einer beeindruckenden akademischen und beruflichen Laufbahn. Nach seiner Ausbildung absolvierte er einige vertiefende Weiterbildungen an der renommierten Finanzakademie der European Business School gemeinsam mit der Deutschen Börse Gruppe, unter anderem als Investment Consultant, Quantitative Investment Analyst und Qualified Portfolio Manager. Mit seiner fundierten Expertise und seiner Leidenschaft für innovative Ansätze hat er u.a. die amandea Vermögensverwaltung AG sowie die fps financial planning services GmbH gegründet, deren Vorstand bzw. Geschäftsführer er ist. Sein beruflicher Schwerpunkt liegt auf der Betreuung vermögender Privatkunden und der Begleitung von Menschen, die sich in persönlichen und finanziellen Veränderungsphasen befinden. Durch seine systematische Arbeitsweise schafft er es, individuelle Lösungen zu entwickeln, die sowohl nachhaltig als auch zukunftsorientiert sind. Neben seiner beruflichen Erfüllung ist Frank Seidel stolz auf seine Familie und seine beiden Kinder, die ihm mindestens genauso wichtig sind wie die Meilensteine in seiner Karriere.